Michael Zühl

Im Herbst 2019 hatten wir so viele Konzerte wie nie zuvor seit Bestehen des Ensembles. Mein absolutes Highlight aus diesen Monaten ereignete sich allerdings nicht auf einer Bühne während eines Konzertes, sondern nach einem Konzert in einer S-Bahn.
Wir waren im November auf Japan-Tournee und hatten eines unserer Konzerte im berühmten Bunka Kaikan in Tokio. Das Konzert lief sehr gut, die Zuhörer waren begeistert und standen – wie es in Japan üblich ist – nach dem Konzert geduldig an den Autogramm-Tischen Schlange bis sie unsere Unterschriften auf T-Shirts, CDs oder Basecaps bekommen hatten. Anschließend waren wir zum Essen eingeladen und machten uns gegen Mitternacht mit der S-Bahn auf den Rückweg zum ca. 60 Minuten entfernten Hotel.
Unser Waggon war nur spärlich besetzt, einige Fahrgäste schliefen, hörten Musik über Kopfhörer oder schauten gedankenverloren aus dem Fenster. Wir waren nach diesem gelungenen Abend in bester Stimmung und alles andere als schläfrig. Ich weiß nicht mehr, wer auf die Idee kam, aber plötzlich packte uns die Lust, etwas Musik zu machen und wir holten unsere Instrumente raus und spielten auswendig Bruckners „Locus Iste“.
Einige der freiwillig-unfreiwilligen Zuhörer zückten ihre Handys, um das ungewöhnliche Ereignis zu Filmen. Einer dieser Clips landete auf einem japanischen Twitter-Account und löste eine Diskussion aus, die es zwei Tage später zu einem Hauptthema im japanischen Frühstücksfernsehen brachte. Die Debatte drehte sich um die Frage, ob es in Ordnung ist, bestehende Vorschriften (Verbot von "Straßenmusik" in japanischen Zügen) einfach so außer Kraft zu setzen.
Ob die Diskussion zu einem Ergebnis führte, ist mir nicht bekannt. Auf jeden Fall entschuldigten wir uns in aller Form für unseren (unbewussten) Verstoß gegen die Regeln und haben – bisher – nicht wieder in einer Bahn musiziert.
Aber schön war’s trotzdem.
KURZVITA
Michael Zühl begann im Alter von 8 Jahren mit dem Posaunenunterricht, besuchte ab 1999 das Musikgymnasium „Schloss Belvedere“ in Weimar und studierte anschließend an der HMTM Hannover. Während des Studiums erhielt er Preise und Auszeichnungen bei internationalen Wettbewerben (Kurt-Alten-Wettbewerb, International Brass Instruments Competition Gdansk, Deutscher Musikwettbewerb).
Nach Stationen in diversen deutschen Opern- und Sinfonieorchestern (u. a. Komische Oper Berlin, Staatskapelle Weimar, Gürzenich-Orchester Köln, Badische Staatskapelle Karlsruhe) ist er seit 2014 Soloposaunist des Deutschen Radiophilharmonie Saarbrücken Kaiserslautern.
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